„Unterrichtsalltag“ als Lehrerin an einer Grundschule in Corona-Zeiten

Der Shutdown

Noch schnell wurden Wochenpläne für die Kinder geschrieben, Aufgaben kopiert und alle Schulbücher zusammengesucht, bevor die Grundschulen in Berlin am 16. März endgültig geschlossen wurden. Ich unterrichte eine dritte Klasse, mit verschiedenen Nationalitäten und verschiedenen sprachlichen Voraussetzungen. Eine Hausaufgabe, die ich den Kindern mitgab, war, sich eine Kinderemail-Adresse einzurichten und sich bei einer Lese-Förderplattform anzumelden, um Aufgaben zu lösen.

Soziale Ungleichheiten werden verstärkt sichtbar

Diese Hausaufgabe stellte sich als die herausforderndste Aufgabe seit langem heraus. Drei Wochen dauerte es insgesamt, mit viel telefonischer Unterstützung und viel Geduld, bis ich von allen Kindern elektronische Post erhalten habe. Zwar besaßen alle Eltern zumindest ein Smartphone, aber nicht unbedingt einen Computer mit entsprechenden Internetverträgen. Auch der Umgang mit Internetwerkzeugen war nicht allen Familien vertraut. In telefonischen Gesprächen mit den Kindern zeigte sich schnell, wer gute Lernvoraussetzungen hatte und wer mehr Hilfe, auch aus der Ferne, benötigte. Kinder, die bereits in der Schule selbstständig lernen konnten, hatten weniger Schwierigkeiten sich an die neue Situation anzupassen. Meist können genau diese Familien den Kindern eine feste Struktur bieten und digitale Hilfsangebote in Anspruch nehmen. Schnell gründeten sich digitale Lerntandems und Klassenchats.

Es gibt unzählige kreative Lösungen, die von den Kindern selbst erdacht wurden. Jedoch: Nicht alle Kinder konnten an den kreativen Ideen und den Kommunikationswegen teilnehmen. Manche waren zunehmend schwerer zu erreichen und zu motivieren. Ihnen fehlen die technischen Voraussetzungen, die Ruhe und Räume, um zu lernen, eine emotionale Unterstützung und die Möglichkeit, sich selbst Wissen anzueignen. Es wurde immer ersichtlicher, dass die Schulschließungen die bestehende Bildungsungleichheit verschärfen. Das heißt natürlich im Umkehrschluss: Schule ist nicht nur ein Lernort, sondern eine soziale Einrichtung, die als Ziel haben sollte, sozialen Ungleichheiten entgegenzuwirken.

Schrittweise Rückkehr zum Schulalltag?

Aber wie kann nun eine schrittweise Rückkehr zur Schule erfolgen, die den derzeitigen gesundheitlichen Erfordernissen entspricht und den zunehmenden Ungleichheiten entgegenwirkt? Der Grundschulverband und eine Studie der Leopoldina diskutieren derzeit die schrittweisen Lockerungen der Maßnahmen. Andere Institutionen warnen vor einem zu schnellen Ausstieg aus dem Ausstieg. Ein Szenario: Eine schrittweise Öffnung der Schulen braucht Vorbereitungszeit!

Bevor die Schulen geöffnet werden, sollte sichergestellt werden, dass die Reinigungsdienste mindestens zweimal täglich reinigen. Sie müssen ebenfalls dafür sorgen, auch unter besonderen Schutzmaßnahmen, dass beispielsweise ausreichend Seife auf den Toiletten zur Verfügung steht und die sanitären Einrichtungen sauber bleiben. An diesen grundlegenden Dingen mangelte es bereits kurz vor dem Shutdown. In diesem Zusammenhang sollte auch die politische Diskussion um die Rekommunalisierung der Reinigungsdienste eine kurze Erwähnung finden. Des Weiteren müssen vor Öffnung von Schulen Desinfektionsmittel und Schutzmasken in ausreichenden Mengen vorhanden sein.

Die Lehrer und Lehrerinnen kennen ihre neuen Einsatzpläne genau und können diese den Schüler_innen und Eltern im Vorfeld zukommen lassen. Je klarer geplant wurde, umso weniger Chaos gibt es zu Beginn. Vorstellbar wäre ein „Schichtbetrieb“ in Gruppen: Eine Woche die eine Hälfte der Klasse, die Woche danach die andere Hälfte, dann eine Woche frei, um die Lage zu evaluieren und ggf. nachzusteuern. Somit könnten die Eltern im Vorfeld ihre Betreuungszeit genau planen. Schnelltests sollten, wenn sie verfügbar sind, in ausreichender Menge auch an Schulen zur Verfügung stehen.

Die Schule als sozialen Begegnungsort und als Ankerpunkt etablieren

Vorstellbar wäre unter den oben genannten Voraussetzungen ein Beginn auch für Grundschüler und Grundschülerinnen ab dem 11. Mai 2020. Sechs Wochen wären bis zu den Sommerferien zu überbrücken.

Wichtig ist, dass die soziale Ungleichheit ab jetzt nicht mehr vergrößert, jedoch die Gefahr einer Ausbreitung des Corona Virus soweit es geht, minimiert wird. Es sollte so geplant werden, dass der Unterricht bei einem starken Anstieg der Fallzahlen wieder zeitlich begrenzt eingestellt werden könnte. Dafür müssen die Kinder in den Präsenzzeiten an den Schulen in vielerlei Hinsicht gut vorbereitet werden. Es sollten verschiedene Hilfesysteme für Kinder etabliert werden, die sie kennen und nutzen lernen.

Niedrigschwellige Hilfesysteme wären zwischen zwei Kindern und deren Eltern in einer Klasse eine Möglichkeit. Ein anderes Hilfesystem wäre, neben den Lehrern und Lehrerinnen, die bereits in der Öffentlichkeit kürzlich vorgestellte Idee der Lernbrücken. Sozialarbeiter_innen könnten Familien in schulfreien Zeiten ebenfalls Hilfestellungen bieten. Familiäre Betreuung wie auch Hausaufgabenhilfe könnten telefonisch oder digital gewährleistet werden. Dafür wäre es wünschenswert, dass es eine Grundausstattung von Tablets mit Internetzugang den Schulen bzw. deren Schülern möglichst bald zur Verfügung steht. Dann könnte die Kommunikation gewährleistet und motivierende Lernzugänge geschaffen werden.

Es ist wichtig, dass die Kinder einen Austausch haben, aber auch, dass sie, soweit es geht, digital fit gemacht werden, damit sie mit den eigenen oder vorhandenen Arbeitsmitteln zu Hause besser lernen können (Medienkompetenz stärken). Aber auch die Jugendämter müssten nun besser aufgestellt und digital ausgerüstet werden, um ggf. Kontakte zu den Lehrern und Familien zu halten und bei Gefahren wie Gewaltvorkommnissen schnell zu intervenieren.

Sozialraumorientierte Projekte und Stadtteilläden könnten Schulen Hilfeleistungen in der Vermittlung von Integrationslotsen bzw. Eltern als Dolmetscher geben. Die Sozialraumorientierung wird um den digitalen Raum erweitert. Die Unterrichtszeit in den Kleingruppen sollte dazu dienen, den Kindern eine Stabilität zu bieten, Ansprechpartner für die schwere Situation zu sein, aber auch das Geschehene aufzuarbeiten. Die Schulzeit sollte auch dafür genutzt werden, den Kindern neues in den Hauptfächern beizubringen und Einführungen in kleine Forschungsprojekte zu geben, die sie selbstständig zu Hause weiterführen könnten. Es könnten telefonische Lerntandems gebildet werden, damit alle Kinder auch Kontakt zu anderen Kindern haben und gegenseitig lernen und von ihrem Wissen profitieren. Die Ergebnisse können dann wieder in zwei Wochen in der Schule präsentiert werden. Fachlehrer könnten die Kinder bei ihrer „schulfreien Zeit telefonisch betreuen“ oder als Ersatz einspringen, wenn es Krankheitsfälle gibt.

Prüfungen und Noten sollten derzeit nicht im Vordergrund stehen. Vorschläge dazu hatte die GEW ausgearbeitet.

Christine Scherzinger

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