Jetzt wird über den Schöneberger Gasometer entschieden

Auf der der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) am 23. Juni 2021 soll die Planreife für die Innenbebauung des Gasometers beschlossen werden. Damit wäre der Weg frei für die Errichtung eines Bürohochhauses im Inneren des denkmalgeschützten Gasometer-Gerüsts. Dagegen gibt es erhebliche Bedenken und Proteste.

Schöneberger Gasometer retten!

Aus Protest gegen die Ausbaupläne für den Gasometer hat sich die Bürgerinitiative (BI) „Gasometer retten! gegründet. Die BI kritisiert den Beschluss des Bezirksamts vom 8. September 2020, eine höhere als die bisher vorgesehene Innenbebauung des Gasometers zuzulassen. Dadurch würde die herausragende stadtbildprägende Wirkung des Gasometers massiv beeinträchtigt. Gegen den Ausbau gibt es auch erhebliche denkmalrechtliche Bedenken und allein bei einer Online-Petition auf change.org mehr als 10.000 Unterschriften gegen die Höherbebauung.

Im ursprünglichen Bebauungsplanentwurf war eine Bebauung in Höhe von 57 Meter vorgesehen, bis zum dritten Ring von oben, sodass die zwei obersten Abschnitte frei bleiben und eine Durchsicht ermöglichen. Nun soll das Bürohochhaus jedoch 71,5 Meter hoch werden, mit einer Innenbebauung bis zum vorletzten Ring, auf die sogar noch eine Kuppel als Staffelgeschoss aufgesetzt werden soll, die bis ins oberste Feld hineinragt.

Öffentliche Auslegung und Abwägung

Vom 25. Januar bis 24. Februar 2021 lag der neue Bebauungsplanentwurf öffentlich aus. 732 Stellungnahmen gingen aus der Bevölkerung ein. Gleichzeitig wurden auch die Träger öffentlicher Belange (Behörden und öffentliche Einrichtungen) zur Stellungnahme aufgefordert. Die Abwägung der Bedenken und Einwendungen wird von der Planergemeinschaft vorgenommen, die auch den B-Plan-Entwurf erstellt hat – auf Rechnung des Bezirks, wie Stadtrat Oltmann auf eine Anfrage der Bezirksverordneten Christine Scherzinger mitteilte.

Es gab von Anfang an erheblich Zweifel daran, dass diese Abwägung wirklich ergebnisoffen von denjenigen durchgeführt wird, die diesen B-Plan erstellt haben, im Auftrag eines Stadtrats, der die Höherbebauung sehr deutlich befürwortet. Als Grund dafür, dass das Bürohochhaus unbedingt höher werden muss, gab Stadtrat Oltmann an, dass der Eigentümer Reinhard Müller bereits einen Mietvertrag für das Gebäude abgeschlossen hätte. Mieter ist die Deutsche Bahn.

Bemerkenswert, dass ein Vorhabenträger ein Haus vermietet, das es gar nicht gibt, ja, für das noch nicht einmal eine Baugenehmigung vorliegt. Warum sollte sich der Bezirk dadurch zwingen lassen, das Bauwerk zu genehmigen?

Die Abwägung kommentierte die Bezirksverordnete Scherzinger: „Es geht darum, dass der Stadtrat den vielfältigen kritischen Argumenten der Nachbarschaft Beachtung schenkt und nicht als Marketingbeauftragter Müllers agiert. Das ist nicht die Aufgabe eines Stadtrates“.

Der Tagesspiegel berichtete am 2. März 2021. „Sowohl das Landesdenkmalamt als auch die Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Naturschutz, der sieben Umweltverbände angehören, lehnen den beinahe kompletten Innenausbau des Schöneberger Gasometers ab.“

Trotzdem hält das Bezirksamt an der Höherbebauung fest. Am 2. Juni 2021 wurden die Ergebnisse der Abwägung veröffentlicht. Die erheblichen Bedenken fanden wurden mit dem Hinweis „Keine Beachtung“ weggewogen. Nun muss die Bezirksverordnetenversammlung entscheiden – über das Abwägungsergebnis und den Bebauungsplan – und damit auch eine Haltung zur Kritik der Träger öffentlicher Belange und der Nachbarschaft einnehmen. In diesem Wahljahr werden die Bürger_innen sicher besonders genau auf das Abstimmungsverhalten schauen.

Zweifelhafte Nachverdichtung

Die Anwohner_innen fürchten auch Verschattungen der Flächen im Gasometer-Park, in den angrenzenden Gebäuden und im Straßenraum. Sie kritisieren grundsätzlich die weitere Verdichtung und Versiegelung, die nachteilig für das Klima und den Luftaustausch sei. Damit das Gelände erreichbar ist, sollte Reinhard Müller ursprünglich eine Zufahrtsstraße bauen, denn bisher gibt es nur eine Zufahrt über die Torgauer Straße. Baustadtrat Jörn Oltmann hatte sich lange gegen die Genehmigung weiterer Gebäude auf dem Gelände gestellt, solange der Vorhabenträger dieser Verpflichtung nicht nachkommt. Doch dann schwenkte er um. Eine neue verkehrstechnische Untersuchung ergab, dass selbst bei weiteren 2.000 Arbeitsplätzen auf dem Gelände die alleinige Zufahrt über die Torgauer Straße ausreichend sei, denn viele kämen mit dem Rad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Torgauer Straße soll nun als Fahrradstraße „ertüchtigt“ werden.

Es fällt schwer sich vorzustellen, wie sich auf dieser schmalen Straße, die nicht verbreitert werden kann, Fußgänger_innen, Radfahrende und Autos zügig und sicher gemeinsam bewegen sollen. Wenn im Notfall Rettungs- und Feuerwehrwagen schnell auf das Gelände und von dort wieder wegkommen müssen, scheint ein Desaster vorprogrammiert. Bis zu 7.000 Arbeitsplätze sollen einmal auf dem EUREF-Gelände angesiedelt werden. Durch den Verzicht auf die ursprünglich vorgesehene Planstraße spart Müller millionenschwere Investitionen zulasten der Sicherheit von Beschäftigten und Passant_innen.

Weiterführende Links:

Mündliche Anfrage zur Torgauer Straße: https://www.linksfraktion-tempelhof-schoeneberg.de/initiativen/detail/news/euref-campus-erschliessungsvertrag-torgauer-strasse/

Weitere Initiativen der Linksfraktion in Tempelhof-Schöneberg (Suchbergriff EUREF eingeben): https://www.linksfraktion-tempelhof-schoeneberg.de/nc/initiativen/

 

Bedenken aus Sicht des Denkmalschutzes

Von immer mehr Seiten gibt es erhebliche denkmalschützerische Bedenken.

Vor über zehn Jahren, am 7. Oktober 2010, äußerte sich das Landesdenkmalamt bereits kritisch zur niedrigeren Innenbebauung: „Dem Bebauungsplan wird unter Zurückstellung erheblicher denkmalpflegerischer Bedenken zugestimmt“. Der damals vorgelegte Bebauungsplanentwurf wurde jedoch nie festgesetzt, die Bebauung des Grundstücks erfolgte nur mit Genehmigungen aufgrund vorläufiger Planreife. Als Träger öffentlicher Belange hat das Landesdenkmalamt erhebliche Bedenken angemeldet. Eine Höherbebauung lehnt es ab: „Es ist nach wie vor unsere Auffassung, dass eine höhere Bebauung die stadtbildprägende Wirkung und die Ablesbarkeit der technischen Konstruktion des Gasometer-Gerüsts erheblich beeinträchtigen würde.“

Der Landesdenkmalrat, ein vom Senat berufenes Beratungsgremium, dem die neuen Überlegungen vorgestellt wurden, hatte diese im März 2020 „mit Befremden zur Kenntnis“ genommen. Er befürchtet, „dass das filigrane Gerüst des Gasometers bei der projektierten Bebauung nicht mehr angemessen wahrzunehmen sein wird“.

Schon im Februar hatte der Verein Denk mal an Berlin den Gasometer zum „Besonderen Denkmal“ erklärt. Die Vorstandsvorsitzende des Vereins und ehemalige Schöneberger Bürgermeisterin Elisabeth Ziemer rief alle Berliner_innen auf: „Wehren Sie sich gegen die Ausbaupläne beim Gasometer. Das filigrane Gerüst, das jetzt weithin sichtbar ist und zur Stadtsilhouette Berlins gehört, darf nicht bis in das oberste Geschoß hinein zugebaut werden.“

Die Berliner Geschichtswerkstatt wandte sich mit einem Schreiben an die Bezirksverordneten und betonte ihre Verbundenheit mit dem denkmalgeschützten Bauwerk, die sich durch die Stadtführungen und der Publikation „Die Rote Insel. Berlin-Schöneberg. Bruchstücke zur Stadtgeschichte“ ausdrückt. Sie ist der Ansicht, dass die Silhouette des Wahrzeichens in der bisherigen Form erhalten werden und mindestens drei Stahlgerüstringe frei bleiben sollten.

Der Verband Deutscher Kunsthistoriker setzte den Schöneberger Gasometer Ende April auf die Rote Liste bedrohter Baudenkmaler. Mit der Höherbebauung „besteht die Gefahr, dass ein bedeutender Industriebau des frühen 20. Jahrhunderts in seiner Wahrnehmung beeinträchtigt und die heute einzigartige Fernwirkung der bei ihrer Errichtung wegweisenden Stahlskelettkonstruktion im Stadtbild zerstört wird.“

Ende Mai bekam der Protest eine internationale Dimension, als die NGOs ICOMOS und TICCIH, die die UNESCO bei Weltkulturerbestätten beraten, sich in einem Offenen Brief an die Bezirksverordneten wendeten. Darin melden sie „erhebliche Bedenken“ gegen die Höherbebauung an: „Sie vernichten damit die Authentizität dieses industriellen Denkmals, die wenigstens noch in wenigen Gerüstringen erkennbar wäre. Der Wert, den dieses Kulturerbe auch für künftige Generationen besitzen könnte, wird geschwächt, die Verbindung zwischen technologischer und künstlerischer Geschichte aufgehoben.“ Sie appellieren an die Bezirksverordneten: „Bedenken Sie bitte, welche historische Verantwortung Sie mit Ihrem Beschluss über den Bebauungsplan 7-29 tragen.“ Manche Anwohner_innen fürchten sogar um den Bestand des Gasometergerüsts insgesamt. Vertretern des Landesdenkmalrats (LDR) waren bei einer Besichtigung im November 2016 bereits Details aufgefallen, „die Maßnahmen erfordern (Rostschutz, kritische Punkte an 24 Stützenfüßen, Schimmelbildung)“. Sie bemängelten, es „fehlten bisher offensichtlich Informationen über die ausgewählten und beabsichtigten Schritte zur Sanierung“, und hielten fest: „Der Landesdenkmalrat erwartet, dass beim Ausbau des Gasometers die historische Substanz, namentlich auch des unteren Rings, vollständig erhalten wird“.

Passiert ist bisher nichts, entgegen der im Bezirk getroffenen rot-grünen Zählgemeinschaftsvereinbarung vom November 2016: „Wir setzen uns ebenso dafür ein, dass die Instandsetzung des Gasometers zügig begonnen wird, um einem weiteren Verfall dieses wichtigen Industriedenkmals entgegenzuwirken.“

 

Weiterführende Links:

Antwortschreiben auf den Brief der Berliner Geschichtswerkstatt: https://www.linksfraktion-tempelhof-schoeneberg.de/nachrichten/detail/news/antwortschreiben-auf-den-brief-der-geschichtswerkstatt/

Antrag der Linken zur Einbindung der Denkmalschutzbehörden in die Diskussion: https://www.linksfraktion-tempelhof-schoeneberg.de/initiativen/detail/news/gasometer-bebauung-denkmalschutz-ernst-nehmen/

Presseerklärung: Denkmalschutz ernst nehmen: https://www.linksfraktion-tempelhof-schoeneberg.de/nachrichten/detail/news/gasometer-bebauung-denkmalschutz-ernst-nehmen-1/

 

 

Braucht Schöneberg ein weiteres Bürohochhaus?

Diese denkmalschutzrechlichen Bedenken sollen, wie es die Ergebnisse der Prüfung und Abwägungen gegenüber dem Landesdenkmalamt aufzeigen, aufgrund wirtschaftlicher Gründe keine Beachtung mehr finden. Darin heißt es u.a. „Danach sollen noch vorhandenen Flächenreserven vor dem Hintergrund der wachsenden Stadt, eines enormen Bedarfs insbesondere nach Büro- und Dienstleitungsflächen und der städtebaulichen Qualitäten (…) durch eine geordnete Entwicklung zukünftig intensiver genutzt werden. Damit wird ebenfalls den Zielen des Standentwicklungsplans Wirtschaft 2030 entsprochen. Der EUREF Campus ist im StEP Wirtschaft als Zukunftsort hervorgehoben (…)“

 

Weiterführende Links zum Thema Zukunftsort und EUREF:

Voss, E. (2020): Gasometer als Zeichen des Kapitals Mieterecho: https://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/euref-campus/

In welcher Stadt wollen wir leben? https://www.bmgev.de/mieterecho/archiv/2018/me-single/article/in-welcher-stadt-wollen-wir-leben/

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es durchaus Flächenreserven auf dem Gelände gegeben hätte, die nicht in Anspruch genommen wurden. In der Argumentation wird auch nicht auf die veränderte Lage durch die Pandemie Bezug genommen:

In Pandemiezeiten hat der Trend zum Homeoffice rasant zugenommen, so dass sich die Frage stellt, wie sinnvoll die Errichtung neuer Bürohäuser überhaupt ist. Die Bahn steht jedoch zu ihrer Aussage, „durch die Anmietung des noch zu bauenden Gebäudes im Gasometer dort 2.000 Büroarbeitsplätze einzurichten“. Im Gasometer will sie ihre „Digitale Schiene Deutschland“ unterbringen, „die eine völlig neue Steuerung des Bahnbetriebs durch Vernetzung von Daten von Infrastruktur und Fahrzeug ermöglichen wird, wie auch Entwicklungen in den Bereichen KI, Blockchain und Data Lakes für den Bahnsektor. In diesen Zukunftsfeldern werden auch die noch einzustellenden Beschäftigten arbeiten.“

Die Argumentation mit neuen Arbeitsplätzen für Berlin ist nur begrenzt nachvollziehbar, denn die meisten Beschäftigten werden von anderen Standorten in den Gasometer umziehen. Neue Bürogebäude in attraktiven Innenstadtlagen könnten Leerstände und Verödung an anderer Stelle vorantreiben, während es in den bereits hochverdichteten Vierteln zu weiteren Belastungen für Mensch und Natur kommt. Sollten nicht gerade die schönsten Orte und Gebäude dieser Stadt für die Berliner_innen da sein und nicht dem Profit geopfert werden?

Weiterführende Links:

Infos: Presseerklärung: Gasometereklat: Oltmann schafft Fakten an der Öffentlichkeit vorbei. https://www.linksfraktion-tempelhof-schoeneberg.de/nachrichten/detail/news/gasometer-eklat-oltmann-schafft-fakten-an-der-oeffentlichkeit-vorbei/

 

Wie weiter?

Es hätte einen Kompromiss geben können, dieser ist schon von Anbeginn der Diskussion seitens des Stadtrates und der übrigen Fraktionen bis auf die Linke außen vorgelassen worden. So wird Bürgerbeteiligung zur Farce. Die Richtung ist klar: Stadtrat Oltmann fördert hier Investoreninteressen, die nicht nur bei diesem Beispiel auf Kosten der Bürgerbeteiligung gehen. Das sind Planungen für eine unternehmerische Stadt, aber garantiert nicht für die Menschen vor Ort!

Weiterführende Links:

Presseerklärung: Bürgerbeteiligung darf nicht zur Jubelveranstaltung werden: https://www.linksfraktion-tempelhof-schoeneberg.de/index.php?id=56433&no_cache=1&tx_news_pi1[news]=80574&tx_news_pi1[controller]=News&tx_news_pi1[action]=detail

 

Podcast zum Thema: Gasometer Retten. Denkmalschutz und Bürgerbeteiligung ernst nehmen. Gespräch mit Christine Scherzinger, stadtpolitische Sprecherin Fraktion Die LINKE in TS und Wolfgang Leonhardt, Künstler und Mitglied in der BI Gasometer Retten: https://www.youtube.com/watch?v=Wcr6PGvNrdc

 

Ausstellung „100 x Gasometer“ bis zum 12. Juni 2021 in den Schaufenstern des D‘Ángelo, Kolonnenstr. 5

 

Zur BI: www.gasometer-retten.de

 

Stand: Juni 2021

Diesem Text liegt der Artikel „Schöneberger Gasometer in Gefahr. Eigentümerinteressen oder Denkmalschutz und Bürgerbeteiligung – wie entscheidet die Politik?“ von Elisabeth Voß (Bürgerdeputierte/sachkundige Bürgerin im Stadtentwicklungsausschuss, parteilos) zugrunde, der in der Berliner Umweltzeitung Der Rabe Ralf, Ausgabe April/Mai 2021 erschien. Er wurde für die Fraktion DIE LINKE In der BVV Tempelhof-Schöneberg in Zusammenarbeit mit der Autorin überarbeitet und aktualisiert.

Zum Rabe Ralf Artikel: https://www.grueneliga-berlin.de/publikationen/der-rabe-ralf/aktuelle-ausgabe/schoeneberger-gasometer-in-gefahr/

Zu Elisabeth Voß: www.elisabeth-voss.de/